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Da stand ich nun .....


Da stand ich nun. Da stand ich nun in der U-Bahn, Richtung Rotkreuzplatz. Mir war irgendwie kalt, obwohl es mitten im Juni war. Mußte wohl an der U-Bahn liegen. Plötzlich erklang die spröde Stimme des Fahrers in der Sprechanlage des Waggons: "Nächster Halt Maillingerstraße."
Gleich war es soweit, bald mußte ich aufsagen, was ich schon seit Tagen vor mir selbst aufgesagt hatte. Die Türen gingen auf und ich stieg aus, aber erst als alle schon ausgestiegen waren und ich der letzte im Waggon war. Ich mußte zu diesem Gebäude, und zwar heute!
Da stand ich nun, auf der Plattform. Langsam und stockend ging ich in Richtung einer Rolltreppe, in der Hoffnung den falschen Ausgang zu erwischen, und somit das Bevorstehende auf morgen verschieben zu müssen. Pech gehabt, auf einem Richtungsweiser stand groß und unübersehbar: Albrechtstraße.
Als ich nun die Treppen hochstieg, merkte ich, wie mein Herz immer schneller schlug, obwohl ich sehr viel Sport treibe: Mußte wohl am Wetter liegen.
Da stand ich nun oben, Autos fuhren an einer Kreuzung vorbei und Passanten liefen hektisch über eine Kreuzung: Ach, ein Autohaus, vielleicht sollte ich einmal die Autos anschauen, bevor ich zu diesem Gebäude ging?
Blödsinn, wie konnte ich jetzt nur noch an Autos denken? Wieder mit etwas mehr Mut ausgestattet ging ich in die Richtung, wohin die meisten der aus der U-Bahn Kommenden gingen.
"Hoffentlich gelange ich so in die falsche Richtung, und kann selber nichts dafür, dass ich das gesuchte Gebäude nicht gefunden habe! Somit würde sich die Angelegenheit automatisch auf morgen verschieben."
Als ich an einer Abzweigung vorbeikam, sah ich links, wie sich eine Menschenmenge aufhielt, und aus dieser Richtung mir Jugendliche entgegenkamen. Junge, hilft alles nichts, jetzt mußt Du das Straßenschild ansehen: Albrechtstraße.
Mein Befürchtungen hatten sich bewahrheitet: Dies war keine normale Menschenmenge, sondern Schüler von diesem Gebäude.
Da stand ich nun vor dem Gebäude.
Merkwürdig, in der U-Bahn war mir so kalt gewesen, und kaum steh ich vor diesem Gebäude, wird mir auf einmal so warm, so heiß. Mußte wohl am Wetter liegen.
Da stand ich nun vor diesem Gebäude, nachdenkend, ob ich jetzt reingehen und die Sache hinter mich bringen oder es auf morgen verschieben sollte. Aber wenn ich es auf morgen verschiebe, werde ich auch morgen genau hier vor dem Gebäude stehen und mir die Frage stellen, ob ich jetzt reingehen oder nichtreingehen soll. Ich bemerkte, dass mich einige dieser Schüler von dem Gebäude mißtrauisch beäugten. Kein Wunder, ich war ja auch ein Fremder, der vor ihrem Gebäude steht und über irgendwelche Sachen nachdenkt. Sicherlich dachten sie darüber nach, über was ich nachdachte. Es hatte alles keinen Sinn, ich mußte in das Gebäude rein. Aber wie ? Durch die Türe natürlich. Ich bemerkte, dass ich immer naiver wurde, um nur nicht heute in das Gebäude gehen zu müssen. Aber ich war mir sicher, dass ich morgen genauso, nicht heute reinwollte. Es hatte alles keinen Sinn, ich mußte heute in das Gebäude. Ganz cool und locker ging ich rein, ging die Treppen rauf, jetzt wurde mir auf einmal wieder ganz kalt am Leibe, das Atmen fiel mir auch schwer: Was doch Treppensteigen bei einem Menschen bewirken kann.
Ich ging durch eine Glastüre, und hielt Ausschau nach dem Sekretariat. Vielleicht hatte es heute geschlossen? Oder derjenigen ist heute gar nicht anwesend oder sogar krank, und ich muß morgen wieder kommen.
Doch vor meiner Nase ging eine Türe auf, und ich sah das Sekretariat. Jetzt gab es kein zurück mehr, und auch kein morgen. Komisch, das Atmen fiel mir plötzlich noch schwerer als beim Treppensteigen. War wohl die Nachwirkung davon, soll vorkommen.

Als ich drinnen war, schloß sich die Türe wie von selbst: Ich war eingefangen. Wieso eingefangen, ich war doch freiwillig hier, oder?
Abgesehen von den Sekretärinnen war ich der Einzige im Raum. Beim Reingehen hatte ich bemerkt, dass eine Türe links von der Eingangstüre offenstand. Nach dem Mobiliar zu beurteilen, mußte dies das Zimmer des Direktors sein. Aber warum stand die Türe offen und niemand war drinnen? Die Sekretariatstüre ging wieder auf und drei Schüler kamen ins Sekretariat herein. Ich fühlte mich erheblich erleichtert, jetzt war ich nicht mehr der einzige im Raum, der wartete.
Jetzt stand eine Sekretärin auf und kam auf uns zu. Ich dränge mich gegen eine Ecke, um nicht der Erste zu sein. "Er war vor uns da" meinte einer der Schüler und zeige in meine Richtung. "Geht schon in Ordnung", meinte ich, und ließ gleich alle drei vor: Da ich nun bereits mit der Sekretärin gesprochen hatte, war die Sache "auf morgen zu verschieben", endgültig gestrichen. Als der Zweite an der Reihe war, kam plötzlich ein Herr im grauen Anzug herein, ging in das Zimmer mit offenstehender Türe hinein, und verschloß dieses hinter sich. Ich hatte ein komisches Gefühl, dass ich über meine Angelegenheit mit ihm sprechen mußte. Als nun auch der Dritte dran war, kam ich an die Reihe: "Entschuldigen Sie, ist der Konrektor im Hause?" Die Sekretärin schaute mich verwundert an, da ich ein Fremder war und zum Konrektor wollte. "Warte ein bißchen, er müßte jeden Augenblick hereinkommen." Das war gut, jetzt hatte ich noch Zeit, alles, was ich tagelang geprobt hatte, nochmals duchzugehen: "Grüß Gott, ……..". Wieder kam ein Schüler in das Zimmer herein und klopfte an der Türe des Mannes mit dem grauen Anzug. Dieser schien auf ihn gewartet zu haben und bat ihn in sein Zimmer. Nach ca. 8 Minuten kam der Schüler, vermutlich aus der Oberstufe, wieder aus dem Zimmer heraus. Zufrieden sah er jedenfalls nicht aus. Der Mann mit dem grauen Anzug kam ebenfalls heraus mit einem Stapel Blätter in der Hand. Ich sah ihn kurz an und schaute lieber gleich wieder weg. Als ich nach einer kurzen Weile wieder in seine Richtung sah, sah ich, dass er stehengeblieben war und mich ansah. Das Wetter mußte verrücktspielen, denn urplötzlich wurde mir wieder ganz kalt zumute.
"Sie warten auf jemanden" fragt er mich.
Vom Äußeren zu beurteilen war er sehr gestreßt und hatte allen Anschein wenig Zeit mit irgendwelchen Schülern zu reden, doch er bemerkte, dass ich fremd im Gebäude war.
"Ach nichts, ich warte nur auf den Konrektor" antwortete ich.
Stutzig schaute er mich neugierig an und kam auf mich zu.
"So, worum geht es denn?"
Jetzt wurde mir wieder ganz warm unter den Klamotten.
"Ach, Sie sind der Konrektor ?"
Er überlegte kurz und antwortete: "Ja, der bin ich"
"Könnte ich mit Ihnen mal kurz sprechen ?"
"Sicher, treten Sie ein", und zeigte mit der Hand auf das Zimmer, deren Türe offenstand.
Ich ließ ihm den Vortritt, doch er bestand darauf, dass ich als erster hineinging.
Als er die Türe hinter sich schloß, dachte ich mir, dass ich mir jetzt bloß keinen Fehler erlauben dürfe und geprobt hatte ich es ja auch tagelang.
"Nun, worum geht es den."
Nun fing ich an: "Es ist so, ich habe dieses Jahr die Mittlere Reife erworben, und würde gerne aufs Gymnasium übertreten. Leider habe ich beim Wechsel von der Hauptschule auf die Realschule zwei Jahre verloren, bin aber noch nie sitzengeblieben.
Und diese zwei Jahre machen aus, dass ich jetzt den Altersparagraphen um zwei Jahre überschreite. Und nun wollte ich Sie fragen, ob Sie mich aufnehmen müssen."
Total verwundert sah er mich an und sagte: "Müssen, tu ich gar nichts!"
Ich sah nur noch wie der schwarze Vorhang bei mir fiel. Du verdammter Idiot, du Volltrottel, was redest du denn da. Tagelang zuhause geübt, wie du zu reden hast und jetzt genau das Gegenteil von dem Geübten. Für was war denn eigentlich der Aufwand zuhause? Für die Katz! Jetzt mußte ich retten, was noch zu retten war.
Immer noch sah der Mann mich ungläubig an, ich glaube, er hatte gemerkt, dass ich was ungewollt falsch gesagt hatte und wartete auf meine Erklärung darauf.
"Oh Entschuldigung, Sie müssen natürlich gar nichts, ich wollte Sie fragen, ob sie mich aufnehmen wollen."
Er blickte zur Decke hinauf: Machte wahrscheinlich einen Überschlag, ob der Lebenslauf von mir altersmäßig relativistisch war.
Nach einer kurzen Pause blickte er mich an und sagte:
"Wenn Sie weitermachen wollen so soll es nicht an mir liegen. Aber ich brauche ein psychologisches Gutachten von der Realschule, dass Sie notenmäßig für den Besuch eines Gymnasium geeignet sind."
Ich konnte mein Glück nicht fassen, bei meiner Mittleren Reife war die Sache mit den Noten kein Problem.
Er machte sich daraufhin eine Notiz auf einen Block und entließ mich mit den Worten:
"Denken Sie an das psychologische Gutachten, ohne dieses darf ich Sie gar nicht annehmen!"
Ich wiederholte, dass dies kein Problem sei, und verließ das Sekretariat.
Da stand ich nun, wieder vor dem Sekretariat. Diesmal war die Sache endlich getan, und nicht weiter vorsichhingeschoben.
Inzwischen waren die Gänge mit Schülern überfüllt, die Pause mußte angefangen haben, obwohl ich gar keinen Gong gehört hatte. Aber wen interessiert dies jetzt? Mich jedenfalls hat es nicht interessiert.
Mit der Schülermenge, die sich zum Ausgang drängte, wurde ich automatisch nach draußen befördert.
Da stand ich nun vor dem Ausgang des Gebäudes, und las die Messingschriften die über dem Eingang in den Beton angebracht worden waren: RUPPRECHT - GYMNASIUM MÜNCHEN. Jetzt bemerkte ich, dass es Hochsommer in München war und dass ich schwitzte, ich zog den zweiten Pullover, den ich am Morgen wegen der Kälte angezogen hatte, wieder aus, und band ihn um meine Hüfte.
Merkwürdig war, dass mir der Weg zur U-Bahn zurück leichter fiel, als das Kommen. Beim Zurückgehen merkte ich, dass die Männer kurzärmlige Sweart-Shirts, und die Frauen modisch chice Sommerkleider trugen. Nur ich trug zwei langärmlige Pullover, also zog ich auch den ersten Pullover aus, und lief mit einem T-Shirt bekleidet in Richtung U-Bahn. Kurz vor der U-Bahn sah ich das Autogeschäft von heute früh, gegenüber dem U-Bahneingang wieder, doch jetzt hatte ich nicht die geringste Lust Auto anzuschauen.
Auch die Heimfahrt dauerte viel kürzer als die Herfahrt in der Früh.
Ich wußte nur eines: Meine Reifeprüfung hatte ich schon jetzt bestanden.

Da steh ich nun vier Jahre nach dem Gespräch mit dem Herrn im grauen Anzug vor dem Gebäude: Rupprecht-Gymnasium München. Was hatte sich doch alles getan in den vier Jahren:

Mit Herrn Grimm, unserem Deutschlehrer, in der 10 Klasse nach Benediktbeuern, wo wir in einer nächtlichen Moorwanderung die Orientierung verloren hatten und Herr Grimm uns vor den Werwölfen rettete. Wo Richard angeblich nicht Tischtennis spielen konnte und bei Geldwetten jedesmal gewann.

Und in der 11 Klasse mit Herrn Grimm und Frau Held nach Neapel. Bei den stundenlangen Stadtwanderungen (eher Marathon), wo Herr Grimm jedesmal den längeren zog und als Gewinner hervorging. Bei Besichtigungen der Unterwelt von Neapel, wo Frau Held, Steffanie, Alexa, mein Bruder und ich, Herrn Grimm mitten in der Nacht verloren hatten und keiner weiter wußte, weil Herr Grimm die Stadtpläne mitgenommen hatte (Es stellte sich heraus, dass Herr Grimm am Geldautomaten nur Geld ziehen war.). Und noch die Überseefahrt mit einem Kutter zur Insel Capri, und ……. .
Diese Jugenderlebnisse werde ich sicherlich mein Leben lang nicht vergessen. Und verdanken kann ich diese erlebten Erlebnisse nur einer Person: dem Herrn mit dem grauen Anzug.

Es ist schön zu wissen, dass es Personen gibt, die nicht nur nach Paragraphen und Regeln handeln, sondern auch, wenn dies möglich ist, Ausnahmen machen. Wäre dieser Herr mit dem grauen Anzug ein Mensch gewesen, der mit Scheuklappen durch die Welt geht und nur nach Paragraphen und Regeln handelt, so wäre es nicht zu diesem Artikel gekommen.

In den vier Jahren, in denen ich in diesem Gebäude als Schüler tätig war, ist mit zu Ohren gekommen, dass mein Fall keineswegs nur eine Ausnahme war. Von vielen anderen Schülern bekam ich zu hören, dass auch in ihren Fällen (andere als mein Fall ) der Herr im grauen Anzug, in begründeten Fällen, eine Ausnahmen machte.

In all den Jahren, wenn ich ins Sekretariat ging, konnte ich sehen, dass seine Türe immer offenstand, so wie sie damals für mich offen gewesen war.

Es ist schön und beruhigend zu wissen, dass einflußreiche Positionen und Ämter von den richtigen Personen besetzt werden.

Seit dem Tage an, an dem er mir die Zusage gemacht hatte, dass er mich aufnehmen wolle, dachte ich daran mich bei ihm zu bedanken: Aber wie? Wann? Und in welcher Form?
Ich glaube, dass der Zeitpunkt jetzt dafür gekommen ist, und anstatt lange drumherum zu reden sage ich, obwohl diese Tat mit einfach Worten nicht zu danken ist:

Danke, Herr Veitenhansl

Ayhan Yildirim


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